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Jugendliche: Starker Selbstbezug weicht Sorge um Umwelt

Wie haben sich Zukunftsängste junger Menschen in den letzten Jahrzehnten entwickelt und wie unterscheiden sie sich weltweit? Antworten auf diese spannenden Fragen gibt eine große Langzeitstudie in 25 Ländern, die von Kammermitglied Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke geleitet wurde.

Die Psychoanalytikerin hat ihre lange wissenschaftliche Karriere dem Heranwachsen von Jugendlichen zu Erwachsenen gewidmet. Ein ganz besonderes Projekt ist schon allein aufgrund seiner Dimensionen das hier vorgestellte: Im Jahr 2012 begannen Inge Seiffge-Krenke und viele internationale Kooperationspartner*innen in 20 Ländern Daten zu erheben, indem sie standardisierte Fragebögen zur Erfassung von Stress und Stressbewältigung ausfüllen ließen. In den folgenden Jahren bis 2018 wurden noch fünf weitere Länder in die Datenerhebung einbezogen. Insgesamt nahmen 17.742 Jugendliche im Alter von 15 Jahren teil, von denen 54 % weiblich und alle Schüler*innen waren. In dem Artikel „Zukunftsängste bei Jugendlichen: Ein Vergleich aus 25 Ländern“, der im Jahr 2023 in der Fachzeitschrift „PiD – Psychotherapie im Dialog“ erschien, erläutert Inge Seiffge-Krenke Design und Ergebnisse der Studie.

Da die Studienautor*innen vermuteten, dass bei geografischer und kultureller Nähe ähnliche Muster von Stress und Bewältigungsstrategien auftreten, wurden die 25 in die Studie einbezogenen Länder zu Regionen zusammengefasst: Mitteleuropa (Deutschland, Niederlande, Schweiz, Großbritannien), Nordeuropa (Finnland,Norwegen), Osteuropa (Polen, Estland, Kroatien, Tschechien Russland), Südeuropa (Frankreich, Italien, Griechenland, Portugal, Spanien), Nordamerika (Kanada, USA), Südamerika (Peru, CostaRica), Asien (Hongkong, Korea) und der Mittlere Osten (Ägypten, Pakistan, Türkei). Die Clusterbildung wurde anhand sozioökonomischer Schlüsselindikatoren (beispielsweise Bruttoinlandsprodukt, Jugendarbeitslosenquote) validiert.

Trotz der sich deutlich unterscheidenden Lebensumstände in den unterschiedlichen Regionen war der wichtigste Stressor überall die Zukunftsangst, vor allem in Ländern in denen eine große Jugendarbeitslosigkeit herrschte. Die höchsten Werte fanden sich bei den jungen Menschen aus Südeuropa, dem Mittleren Osten und Lateinamerika. Nordamerikanische Jugendliche hatten am wenigsten Zukunftsangst; auch die deutschen Befragten wiesen vergleichsweise niedrige Belastungswerte auf. In allen untersuchten Ländern waren Probleme mit Eltern und Freunden sowie Schulprobleme weniger belastende Stressoren als die Zukunftsangst.

Während in früheren Studien zur Zukunftsangst aus den 90er Jahren die Sorgen der befragten Jugendlichen vor allem um die eigene Zukunft kreisten, fällt nun bei den Antworten aus allen Teilen der Welt eine deutliche Verschiebung auf: Ängste um Andere und die Umwelt haben merklich zugenommen. Die Sorge um die Umweltzerstörung ist ein bedeutsamer Stressor sowohl für Jugendliche aus Mittel-, Ost und Südeuropa als auch für südamerikanische junge Menschen. (Von Jugendlichen aus Asien, dem mittleren Osten und Nordamerika hingegen wird die Umweltzerstörung als weniger bedrohlich empfunden.)

Übereinstimmend hatte auch die 19. Shell-Studie aus dem Jahr 2020 und frühere Studien laut Seiffge-Krenke gezeigt, dass die persönlichen Ängste der jungen Menschen zurückgehen (beispielsweise die Angst vor Arbeitsplatzverlust) und Ängste mit gesellschaftlichem Bezug zunehmen. Dies wird unter anderem den Folgen der Anschläge auf das World Trade Center und der Corona-Pandemie zugeschrieben.

Wie junge Menschen mit Zukunftsangst umgehen, ist in allen untersuchten Regionen relativ ähnlich, berichtet Inge Seiffge-Krenke. Die Daten zeigen, dass Jugendliche keine passiven Opfer sind, sondern aktiv mit Stressoren umgehen, besonders häufig indem sie über mögliche Problemlösungen nachdenken und nach Unterstützung suchen (Bewältigungsstil Reflexion/Unterstützungssuche). Offene Äußerung von negativen Affekten und deren Abstraktion, beispielsweise in Form von Türen schlagen oder Sport, ist bei Jugendlichen aus Südeuropa und Lateinamerika weiter verbreitet als in anderen Teilen der Welt. Der Bewältigungsstil „Rückzug/ Verleugnung“ kam vor allem bei Jugendlichen aus Asien und dem mittleren Osten vor, wo offene Auseinandersetzung mit Konflikten als unangemessen gilt.

In vielen Ländern bemühten sich Mädchen aktiver um die Bewältigung ihrer Ängste als Jungen, hatten aber auch deutlich mehr Zukunftsangst.

Inge Seiffge-Krenke betont, dass es bemerkenswert sei, dass Jugendliche aus der ganzen Welt verstärkt Verantwortung übernehmen und sich für Andere engagieren. Zu konstatieren sei zudem ein neuer Bewältigungsstil, der auf Hoffnung fokussiert. Dies sei klinisch besonders bedeutsam, erklärt Inge Seiffge-Krenke, da dieser Bewältigungsstil der Hoffnungslosigkeit entgegenwirke, die einer der Risikofaktoren für psychische Erkrankungen sei.
Forschung zu Mustern der Stressbewältigung im Kulturvergleich sei aus klinischer Sicht sehr hilfreich. Für Deutschland als Einwanderungsgesellschaft mit hoher kultureller Diversität sei der kulturpsychopathologische Blick wichtig. Die vorgestellte Studie trägt dazu bei, den Horizont zu weiten und Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Sorgen junger Menschen auf der ganzen Welt aufzuzeigen.
 

Quelle:
Seiffge-Krenke, Inge: Zukunftsängste bei Jugendlichen: Ein Vergleich aus 25 Ländern, erschienen in: PiD - Psychotherapie im Dialog 2023; 24: 18-22

[Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke]

29.04.2024
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