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Ein Schritt Richtung Entstigmatisierung einer komplexen psychischen Erkrankung

(Gastbeitrag von Prof. Dr. Wilma Funke, Vorstandsbeauftragte für Psychotherapie im Suchtbereich)


Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat im Sommer 2025 seine Reglungen zur Suchtmittelfreiheit als Voraussetzung für eine ambulante Psychotherapie geändert: Für Menschen mit akuter Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit kann nun ein erweitertes Behandlungsfenster von 12 Behandlungseinheiten genutzt werden, um eine Abstinenz zu erreichen. Bisher waren maximal 10 Behandlungsstunden möglich. Neu ist außerdem, dass bis zu 24 Behandlungseinheiten in der ambulanten Psychotherapie genutzt werden können, wenn die Suchtmittelfreiheit bis zu diesem Zeitpunkt zwar nicht erreicht, dieses Therapieziel aber weiter realistisch ist und konkrete therapeutische Schritte zum Erreichen dieses Ziels vereinbart wurden.

Wie ist diese Neuregelung aus psychotherapeutischer Sicht zu beurteilen?
Die neue Regelung stellt aus psychotherapeutischer Sicht eine Verbesserung der Versorgungsmöglichkeiten dieser Patientengruppen dar. Die erweiterten Zeitfenster bieten einerseits die Möglichkeit, eine psychische Stabilisierung zu erreichen und festzustellen, welche fortführenden Maßnahmen angemessen sind (ambulante oder stationäre Psychotherapie, medizinische Rehabilitation, Mitbehandlung komorbider Störungen). In einer belastbaren therapeutischen Arbeitsbeziehung und bei günstiger Prognose besteht andererseits in 24 Behandlungseinheiten die gute Möglichkeit, eine kurzfristige Abstinenzverletzung aufzuarbeiten. In der Behandlung kann also der Frage nachgegangen werden, welche Funktion der erneute Substanzkonsums erfüllen sollte. 

Verschiedene Behandlungsgruppen können von den Vorteilen der neuen Regelung profitieren, beispielsweise:

  1. Personen mit noch nicht (ausreichend) sicherer Abhängigkeitsdiagnose können sowohl ihr Konsumverhalten als auch dessen Auswirkungen in einem geschützten psychotherapeutischen Rahmen reflektieren. Ambivalenzen können etwa mit Methoden der motivierenden Gesprächsführung bearbeitet und zielführende Entscheidungen für weitere Vorgehensweisen getroffen werden.
     
  2. Bei Menschen mit komorbider Substanzkonsumauffälligkeit geht es manchmal mit dem Konsum auch um Selbstmedikation. Dieser dysfunktionale Bewältigungsversuch kann mithilfe der Psychotherapie deutlich gemacht und durch funktionale Bewältigungskompetenzen ersetzt werden. 
     
  3. Menschen nach medizinischer Rehabilitation benötigen häufig zur weiteren Stabilisierung die Behandlung von zugrundeliegenden oder komorbid aufgetretenen Belastungen (am häufigsten depressive und Angststörungen). Wenn derartige Unterstützung fehlt, ist im ersten halben Jahr nach erfolgreicher Rehabilitation das Rückfallrisiko in erneuten Substanzkonsum am höchsten, wie empirisch gut belegt ist.
     
  4. Personen mit einer Suchtmittelabhängigkeit in ihrer medizinischen Vorgeschichte sind häufig besonders gefährdet, in kritischen Lebensphasen eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Dies kann sich sowohl in erneutem Suchtmittelkonsum nach längerer Zeit der Abstinenz äußern (auch mit Umstieg auf eine andere Substanz) als auch mit einem höheren Erkrankungsrisiko für z.B. affektive und Angststörungen einhergehen. Hier können auch kurzzeitige Interventionen durch psychotherapeutische Behandlung hilfreich sein, um einen Rückfall zu bewältigen oder zu vermeiden und eine Stabilisierung zu erreichen.

Psychotherapie ist das Mittel der Wahl, um mit dem Aufbau und der Stabilisierung subjektiver Kontrolle eines der Kernsymptome von Abhängigkeitsstörungen anzugehen. Man geht bei diesen Krankheitsbildern von einer Kombination aus psychischen Symptomen und Entstehungsbedingungen sowie somatischen Faktoren aus. Begleitende negative Emotionen wie Schuld- und Schamgefühle bilden den Nährboden für weitere Dekompensationen. Daher ist es wichtig, auf dem Hintergrund einer validierenden und vertrauensvollen therapeutischen Arbeitsbeziehung mit dem Patienten/der Patientin Kompetenzen auf- und auszubauen, diese Gefühle zu regulieren und aushalten zu können. Voraussetzung ist – neben einigen suchtspezifischen Kenntnissen und Kompetenzen – insbesondere das Vertrauen des Behandlers/der Behandlerin in die Wirksamkeit psychotherapeutischer Ansätze auch für dieses komplexe Störungsbild.

Menschen mit diagnostizierten Konsumsubstanzstörung haben Anspruch auf psychotherapeutische Unterstützung. Allerdings gelten auch hier die Bedingungen der Mitwirkungspflicht und -fähigkeit wie bei den anderen psychischen Störungen auch. Ein Wiederauftreten von Symptomen wie ein erneuter Konsum erfordert Behandlungsangebote und nicht Bestrafung durch Beendigung einer Zusammenarbeit.


 

Hintergrund:
Die Abhängigkeit und der schädliche Konsum von Alkohol (F10.2 und F10.1) sind – neben Tabak und zukünftig möglicherweise auch Cannabis – volkswirtschaftlich bedeutsame Beeinträchtigungen, die sowohl Produktionsausfall im weitesten Sinne als auch erhebliche Kosten für das Gesundheitsversorgungssystem mit sich bringen. Das menschliche Leid für Betroffene und Mitbetroffene lässt sich hierbei nicht in Zahlen abbilden. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Medikamente (F11 und F13) als sogenannte „stille Süchte“ treten gehäuft komorbid mit anderen psychischen und somatischen Beeinträchtigungen auf. Sie sind in der primärärztlichen und psychotherapeutischen Praxis ein eher unterschätztes Phänomen. Daher ist die erweiterte Regelung der psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten ein Fortschritt, auch wenn die Forderung nach uneingeschränkter Abstinenz von Suchtmitteln weiterhin große Hürden für eine stigmatisierte Patientengruppe darstellen.

 

[Prof. Dr. Wilma Funke]

17.11.2025
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