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Weitere Sonderbedarfszulassungen sind dringend nötig

Die psychische Not im Ahrtal ist groß. Unzählige Menschen sind durch die Flutkatastrophe extrem psychisch belastet und finden keine Hilfe, da das Versorgungssystem überlastet ist. Es gibt viel zu wenig Kassensitze für die große Zahl an Hilfesuchenden; die Psychotherapeut*innen vor Ort arbeiten am Rand ihrer Belastungsgrenze. Es sind dringend weitere Sonderbedarfszulassungen nötig, um die Betroffenen angemessen psychotherapeutisch versorgen zu können. Dies wurde mehr als deutlich bei einem gemeinsamen Besuch der Vorstandsmitglieder von Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz (LPK RLP) und Kassenärztlicher Vereinigung Rheinland-Pfalz (KV RLP) im Ahrtal, bei dem sie sich mit Betroffenen und Kammermitgliedern austauschten.

Auslöser für den Besuch war ein Brief, den der Psychologische Psychotherapeut Christian Falkenstein, der im Ahrtal tätig ist, an die Vorstände von LPK RLP und KV RLP richtete und in dem er die psychotherapeutische Versorgungslage vor Ort beschrieb: "Zwar gibt es an vielen Stellen sichtbare Fortschritte, doch sind wir von einem Normalzustand noch Jahre entfernt." In dem Schreiben schilderte er die Verzweiflung vieler von der Flut Betroffener, die im zweiten Jahr nach der Katastrophe die Kraft und Energie verlässt. Die Nachfrage nach Psychotherapie steige und die Wartezeiten seien unerträglich. Die Vorstandsmitglieder beschlossen daraufhin, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Am 29. März 2023 besuchten daher Kammerpräsidentin Sabine Maur, die LPK-Vorstandsmitglieder Ulrich Bestle, Marcel Hünninghaus und KV-Vorstand Peter Andreas Staub, der zugleich im Kammervorstand ist, sowie Kammer-Geschäftsführerin Petra Regelin das Ahrtal.

Erste Station ihres Besuchs ist ein Container des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in Dernau, wo Kammermitglied Falkenstein wöchentliche Treffen mit Senioren abhält, bei denen sie von ihren Erfahrungen bei der Verarbeitung der Erlebnisse rund um die Flutnacht berichten können. Die Senioren leben in den Containern des ASB, weil ihre eigenen Wohnungen und Häuser durch die Flut zerstört oder unbewohnbar wurden. Sichtlich bewegt schildert ein älterer Herr, dass von dem Haus, das er einst selbst mitaufgebaut habe, nur noch die Balken übrig seien. Ein anderer zeigt das Foto seines früher stattlichen Hauses auf seinem Handy herum: „Jetzt ist da nur noch ein Loch“, sagt er leise. Mit dem Verlust klar zu kommen, fällt den Senioren nicht leicht: „Ich darf da nicht mehr vorbeifahren. Ich fange sofort an zu heulen“, sagt eine und den anderen geht es ähnlich. Hinzu kommen die dramatischen Erlebnisse in der Flutnacht, von denen sie bereitwillig berichten. 16 Tote waren allein in dem kleinen Dorf Dernau zu verzeichnen. Die Gemeinschaft in den ASB-Containern und der Austausch über das Erlebte geben den Senior*innen Kraft. Auch die wöchentlichen Treffen mit dem Psychotherapeuten helfen ihnen. Am Ende des Gesprächs bedanken sich die Vorstandsmitglieder bei den Senior*innen für ihr Vertrauen und ihre Offenheit und verlassen den Container, um sich von Herrn Falkenstein zeigen zu lassen, welche Schäden die Flut in Dernau angerichtet hat. Das Ausmaß der Zerstörung, das immer noch gut sichtbar ist, ist erschreckend. Baustelle reiht sich an Baustelle, viele Häuser mussten abgerissen werden. Die Flut hat nicht nur Lücken in die Bebauung geschlagen, auch das soziale Leben der Dorfgemeinschaft liegt brach: Es gibt kein Restaurant mehr, kein Geschäft, Sportplätze und Turnhallen sind zerstört, Möglichkeiten zum Austausch und zur Freizeitgestaltung fehlen. Viele Bewohner*innen haben das Dorf für immer verlassen.

Nach dem beeindruckenden Besuch in Dernau machten sich die Vorstände von Kammer und KV auf den Weg in die Gemeinde Kalenborn. Hier hat Herr Falkenstein im März 2022 seine Praxis eröffnet, nachdem er einen ¾ Kassensitz im Rahmen der Sonderbedarfszulassung zugesprochen bekommen hatte. Gemäß Bedarfsplanung ist der für die Flut-Region maßgebliche Planungsbereich für Psychotherapeut*innen zwar für weitere Zulassungen gesperrt. Doch der Zulassungsausschuss kann in einem Planungsbereich zusätzliche Sitze schaffen, um die Versorgung zu gewährleisten, wenn ein lokaler Sonderbedarf vorliegt und dieser dauerhaft ist. Dies ist im Ahrtal der Fall; die Landespsychotherapeutenkammer und die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz setzen sich daher seit der Katastrophe für die Schaffung von zusätzlichen Sitzen im Rahmen der Sonderbedarfszulassung ein. Im Januar 2022 ließ der Zulassungsausschuss fünf Psychotherapeut*innen mit Teilversorgungsaufträgen für das Ahrtal zu; im März 2022 genehmigte er zudem die Anträge zweier Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen. Damals kommentierte Peter Andreas Staub: „Die nun möglichen zusätzlichen Therapieangebote werden hoffentlich spürbare Entlastung bringen. Inwieweit wir bei weiterem Bedarf nachsteuern müssen, wird sich zeigen“. Wie sich die Situation aktuell darstellt, schilderte Herr Falkenstein anschaulich. Seine beengten Praxisräume befinden sich momentan in einem Doppelcontainer zusammen mit einer Apotheke. Sein Kassensitz ist aktuell der einzige in der Verbandsgemeinde Altenahr mit über 10.000 Einwohnern. Entsprechend lang ist die Warteliste, auf die er ohnehin nur diejenigen Hilfesuchenden aufnimmt, die unmittelbar von der Flut betroffen sind und aus dem näheren Umfeld der Praxis stammen, da er aus Kapazitätsgründen eine Auswahl treffen muss. Seit Anfang des Jahres nehme er durchschnittlich eine Person pro Tag auf die Warteliste auf und sage mindestens 4-6 Personen ab. Die aktuelle Wartezeit auf eine Sprechstunde beträgt zwei bis drei Monate, auf einen Therapieplatz müssen die Patient*innen 9-12 Monate warten. Ohnehin melde sich aber nur ein Bruchteil der zahlreichen Betroffenen in der Praxis, da die Wartezeiten so lang und die Hürden entsprechend hoch seien. Viele Menschen seien traumatisiert, die Störungsbilder komplex und die Versorgung unter schwierigen logistischen Bedingungen entsprechend herausfordernd.

Wie groß die Probleme sind, mit denen die Psychotherapeut*innen Im Ahrtal kämpfen, wird besonders bei der letzten Station des Besuchs deutlich: Die Vorstände hatten die Mitglieder, die in der Ahrtal-Region tätig sind, zum Austausch nach Mayschoß eingeladen. Für das Gespräch stellen die Psychotherapeuten Simon Eickhoff und Simon Hoffmann dankenswerterweise einen Raum in ihrer Praxisambulanz zur Verfügung. Im Erdgeschoss des Hauses sind die Flutschäden noch deutlich sichtbar: Der Putz ist abgeschlagen, die Leitungen liegen frei. Im Gruppenraum im ersten Stock haben sich zehn Kolleg*innen versammelt, die der Einladung der Kammer gefolgt sind. Sie berichten von Wartezeiten von über einem Jahr, von Wartelisten, die über 300 Personen umfassen, von Eltern, die verzweifelt Hilfe für Ihre psychisch kranken Kindern suchen, von Erwachsenen, die versuchen, ihre Flut-Erlebnisse mit Hilfe von Alkohol zu verdrängen. Momentan sei eine zweite Welle an Anfragen zu verzeichnen: Viele, die bisher funktionieren mussten, um den Wiederaufbau zu bewältigen, sind jetzt am Ende ihrer Kräfte angekommen. Die schlimmen Erlebnisse rund um die Flut haben bei einigen auch verschüttete Traumata aus der Kindheit nach oben gespült. Chronische Schmerzen psychosomatischer Natur seien vermehrt zu verzeichnen. Manchen Betroffenen wird erst jetzt bewusst, wie sehr ihre Kinder unter den Folgen der Flut leiden. Die Psychotherapeut*innen schildern, wie schwer es ihnen falle, einen großen Teil der Hilfesuchenden abweisen oder auf später vertrösten zu müssen, da die Kapazitäten weder in den Praxen, noch in den umliegenden Kliniken ausreichend seien. Viele Patient*innen könnten so erst behandelt werden, wenn die psychische Erkrankung schon chronifiziert sei.

Kernproblem ist also, dass die Nachfrage nach Psychotherapie das Angebot bei Weitem übersteigt – nicht etwa, weil es zu wenige Psychotherapeut*innen gibt, sondern weil nicht genug Kassensitze zur Verfügung stehen. Schon vor der Flut war die Versorgungslage im ländlichen Ahrtal mehr als angespannt, diese hat sich durch die Katastrophe dramatisch verschärft. Weitere Sonderbedarfszulassungen sind dringend nötig, um den vielen schwer belasteten Menschen helfen zu können. Die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz wird sich jedenfalls weiterhin zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz für eine Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung im Ahrtal einsetzen. Wie groß der Leidensdruck ist, hat der Besuch im Ahrtal allen Beteiligten eindringlich vor Augen geführt. Die Vorstände von LPK und KV RLP danken den Psychotherapeut*innen vor Ort herzlich für ihr Engagement, ihre wertvolle Arbeit und nicht zuletzt dafür, dass sie Einblick in ihren schwierigen Berufsalltag gewährt haben.

30.03.2023
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