Zum Seiteninhalt

Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: "Die Hütte brennt!"

Warum erkranken manche Kinder und Jugendliche an emotionalen Störungen (wie beispielsweise Angststörungen) und andere nicht? Werden emotionale Störungen von Eltern auf Kinder „übertragen“? Wie kann man verhindern, dass junge Menschen psychisch krank werden und auf welche Weise kann man Erkrankten am besten helfen? Diese Fragen stehen im Zentrum der Forschung und praktischen Arbeit von Silvia Schneider, die an der Ruhr-Universität Bochum die Professur für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie innehat. Außerdem ist sie Direktorin des dortigen Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit (FBZ) und Sprecherin des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG). 
Am 10. Oktober 2025 erhält Frau Prof. Schneider den Deutschen Psychologie Preis für ihre wegweisende Pionierarbeit in der Forschung zur Entstehung und Behandlung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter sowie der Weiterentwicklung psychologischer Präventions- und psychotherapeutischer Behandlungsmethoden. Aus diesem Anlass hat die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz ein Interview mit ihr geführt:

Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz (LPK RLP): Frau Prof Dr. Schneider, Sie beschäftigen sich vor allem mit der Ätiologie, Prävention und Behandlung emotionaler Störungen im Kindes- und Jugendalter sowie der Transmission von emotionalen Störungen innerhalb der Familie. Wie hat sich Ihr Fachbereich seit Beginn Ihrer beruflichen Laufbahn verändert?

Prof. Dr. Silvia Schneider: Als ich anfing, war das Thema „emotionale Störungen im Kindesalter“ in der Forschung kaum existent. Ich habe damals in der Bibliothek nach Informationen gesucht und in vier wichtigen Lehrbüchern zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen kein Kapitel zu Angststörungen gefunden. Das Thema hatte einen sehr geringen Stellenwert, es gab wenig Wissen dazu und kaum epidemiologische Daten. Etwas besser sah es bei externalisierenden Störungen aus, die einfach mehr auffallen als internalisierende. Sehr ängstliche Kinder stören zum Beispiel ja nicht unbedingt den Schulunterricht. Emotionale Störungen im Kindes- und Jugendalter waren also extrem „unterforscht“. Ich hätte nie gedacht, dass das Thema mal so groß wird.

LPK RLP: Was hat sich seitdem verändert?

S. Schneider: Mittlerweile ist das Thema mehr in der Wissenschaft angekommen, die Diagnostik ist auch besser geworden. Wir haben beispielsweise das Kinder-DIPS entwickelt (Diagnostisches Interview für psychische Störungen) und angefangen, nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder selbst zu befragen, was früher nicht gemacht wurde. Außerdem hat sich strukturell einiges geändert: Lange Zeit gab es in Deutschland kaum Professuren mit Schwerpunkt Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie. Durch die Ausbildungsreform wurde festgeschrieben, dass die Fakultäten und Institute nun Professuren für Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie einrichten müssen. Das Fachgebiet hat jetzt also einen anderen Stellenwert und es gibt auch mittlerweile bessere Daten zur Epidemiologie, also zur Verbreitung von emotionalen Störungen im Kindes- und Jugendalter.

LPK RLP: Und was lässt sich aus diesen Daten ablesen? Wie ist es um die psychische Gesundheit der jungen Menschen bestellt?

S. Schneider: Schon seit 20 Jahren wird die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schlechter. Oft wird nahegelegt, die vielen psychischen Erkrankungen seien eine Folge von Corona, aber in Wirklichkeit hält der Trend schon länger an und ist auch nicht abgeflaut als die Pandemie vorbei war. Es gibt allerdings eine auffällige Korrelation zwischen dem Aufstieg der Sozialen Medien und der Verschlechterung der psychischen Gesundheit junger Menschen. Angststörungen, Depressionen und Essstörungen haben zugenommen, vor allem bei Mädchen und vor allem bei sozioökonomisch schwachem Hintergrund. 


„Schon seit 20 Jahren wird die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schlechter. […] Es gibt eine auffällige Korrelation zwischen dem Aufstieg der Sozialen Medien und der Verschlechterung der psychischen Gesundheit junger Menschen.“



LPK RLP: Müsste man also die Nutzung von sozialen Medien für junge Menschen beschränken, um ihre psychisch Gesundheit zu schützen?

S. Schneider: Ich möchte soziale Medien nicht verteufeln, sie können auch positive Effekte haben, beispielsweise sehr schüchternen Kindern Kontaktmöglichkeiten eröffnen. Aber sie sollten nur eine Ergänzung zu realen Kontakten darstellen. All die Zeit, die in den sozialen Medien verbracht wird, fehlt für andere wichtige Entwicklungsaufgaben, beispielsweise für das Heraustreten aus der Familie, für neue Freundschaften und erste Partnerschaften. Vielen Eltern ist nicht klar, wie schädlich soziale Medien für ihre Kinder sind und mit welchen Inhalten sie dort konfrontiert werden können. Ich habe kürzlich an einem Statement-Papier der Leopoldina zum Thema „Soziale Medien und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ mitgearbeitet (siehe hier). Darin empfehlen wir: Keine Nutzung von sozialen Medien bis zum Alter von 13 Jahren, anschließend sollte bis zum Alter von 17 Jahren die Zustimmung der Eltern erforderlich sein. Wir brauchen dringend Regulierungen: Anbieter sozialer Plattformen müssen gezwungen werden, ihre Angebote altersgerecht zu gestalten. Sehr wichtig ist auch, ein medienpädagogisches Curriculum für alle Bildungseinrichtungen zu entwickeln sowie eine riesige Aufklärungskampagne über die Gefahren sozialer Medien.  

LPK RLP: Was sind neben den sozialen Medien Risikofaktoren für psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter?

S. Schneider: Erstens die schon genannten schwachen sozioökomischen Verhältnisse, zweitens vor allem frühe aversive Erfahrungen. Damit ist nicht nur (sexueller) Missbrauch gemeint, sondern auch Vernachlässigung, Gewalt, Mobbing. Was mich fassungslos macht: Das weiß man alles schon so lange – warum wird dieser Zusammenhang immer nur beschrieben? Warum fangen wir nicht endlich an, alles zu tun, um zu verhindern, dass Kinder Gewalt erfahren? 


„Warum fangen wir nicht endlich an, alles zu tun, um zu verhindern, dass Kinder Gewalt erfahren?“


LPK RLP: Was müsste man denn konkret tun?

S. Schneider: Wir müssen „vor die Welle kommen“ - also noch früher ansetzen und dringend mehr für die Prävention tun. Vor allem müssen wir die Erziehungskompetenz der Eltern verbessern und dieses Wissen in die Breite bringen. Wir müssen stärker diejenigen in den Blick nehmen, die Gewalt ausüben, um besser zu verstehen, wie wir Gewaltausübung jedweder Art verhindern können. Außerdem müssen Kitas, Schulen und alle Bezugspersonen der Kinder besser geschult werden, um die psychische Gesundheit immer im Blick zu haben. Es braucht eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention und ein „lernendes System“: Alle beteiligten Akteure sollten regelmäßig zusammen am Tisch sitzen und evaluieren, was gut läuft und was noch verbessert werden muss.

Ein weiterer Punkt, der mir ganz wichtig ist: Wir müssen endlich anfangen, in Deutschland die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu monitoren. Wir brauchen ein Panel, in dem regelmäßig und repräsentativ für Deutschland der Zustand der psychischen Gesundheit junger Menschen erhoben wird, um verlässliche Daten zu gewinnen. Denn in diesem Alter beginnen psychische Erkrankungen, die ohne Behandlung auch im Erwachsenenalter fortbestehen. Wir können es uns also nicht leisten, hier nicht genau hinzuschauen. Die Hütte brennt!

LPK RLP: Sie verfolgen in ihrer Forschung einen stark partizipativen Ansatz, beziehen also Kinder und Jugendliche in die Forschung zur psychischen Gesundheit ein. Wie funktioniert das konkret?

S. Schneider: Zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG) haben wir einen Kinder- und Jugendbeirat ins Leben gerufen, an dem sich an verschiedenen Standorten junge Menschen ab fünf Jahren beteiligen. Sie werden dazu befragt, was sie unter psychischer Gesundheit verstehen und was sie brauchen, um psychisch gesund leben zu können. Sie helfen uns, die Bedürfnisse dieser Altersgruppe besser zu verstehen und zeigen uns, wie wir Forschung gestalten müssen, damit sie ihnen hilft.  Die Kinder und Jugendlichen sind also Ideengeber für die Forschung und können jeden Schritt mitgestalten. Im DZPG entwickeln wir gemeinsam mit dem Team um Hanna Christiansen an der Universität Marburg eine App: Die Youth Mental Health Plattform „Gustaph“ bietet Infos zur Psychischen Gesundheit für Kinder und Jugendliche und für ihre Eltern, Lehrer*innen und sonstigen Bezugspersonen. Wichtig bei diesem partizipativen Ansatz ist es, der Diversität von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. Wir müssen weg vom Fokus auf die Mittelschicht, damit die Erfahrungen von Kindern aus allen sozioökonomischen Schichten in die Forschung einfließen können.

LPK RLP: Für Ihre innovativen Ansätze und ihre wegweisende Forschung erhalten Sie am 10. Oktober 2025 den Deutschen Psychologie Preis. Was bedeutet die Auszeichnung für Sie?

S. Schneider: Ich habe mich riesig über die Auszeichnung gefreut. Sie zeigt, welchen Weg das Fachgebiet zurückgelegt hat. Als ich anfing, auf diesem Feld zu forschen, handelte es sich noch um ein Nischenthema. Ich dachte, ich hätte mit dieser Spezialisierung keine Chance, jemals eine Professur zu bekommen. Der Preis belegt, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen heutzutage einen ganz anderen Stellenwert hat. Es freut mich sehr, dass diese Altersgruppe mehr in den Fokus gerückt ist – denn sie ist die Zukunft der Gesellschaft.


Die LPK RLP gratuliert herzlich zum Deutschen Psychologie Preis und dankt für das interessante Gespräch!

Prof. Dr. Silvia Schneider (Foto: FBZ)

09.10.2025
Zum Seitenanfang