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Welche Konsequenzen haben die Krisen unserer Zeit für die psychotherapeutische Versorgung?

Auf der diesjährigen Fachtagung der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz wurde in verschiedenen Workshops, in Impulsvorträgen und bei einem Podiumsgespräch der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen die Krisen der jüngsten Zeit für die psychotherapeutische Versorgung haben. Der Klima-Wandel und die daraus resultierenden Naturkatastrophen, die Corona-Pandemie sowie der Krieg in der Ukraine und seine Folgen belasten viele Menschen und bleiben nicht ohne Folgen für die psychische Gesundheit. Entsprechend steigt die Nachfrage nach Psychotherapie.

Erstmals fand die Fachtagung der LPK RLP als ganztägiger „Landespsychotherapeut*innentag“ statt. Fast hundert Teilnehmer*innen kamen am 24. September 2022 im Atrium-Hotel in Mainz-Finthen zusammen – um sich nach fast dreijähriger, Corona-bedingter Pause – wieder einmal persönlich mit Kolleg*innen auszutauschen und sich von renommierten Expert*innen informieren und inspirieren zu lassen.


Psychotherapeutische Versorgungslandschaft ächzt unter krisenbedingtem Ansturm

Dr. Andrea Benecke, Vizepräsidentin der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz, begrüßte die Teilnehmer*innen und führte in das Thema ein: Die ungewöhnliche Häufung von Krisen unser Zeit führe bei vielen Menschen zu „tiefgreifender Verunsicherung und Hilflosigkeit“, was mit einer erhöhten Prävalenz von psychischen Erkrankungen einhergehe, so Frau Dr. Benecke. Die erhöhte Nachfrage nach Psychotherapie treffe auf übervolle Praxen und Kliniken. Die Versorgungslandschaft sei diesem Ansturm nicht gewachsen.

Wie man in der Psychotherapie mit den Auswirkungen verschiedener Krisen und Katastrophen umgehen kann, wurde in den anschließenden, parallel stattfindenden Workshops thematisiert. Die Teilnehmer*innen des Landespsychotherapeut*innentags hatten die Wahl zwischen vier spannenden Themen, die von renommierten Expert*innen präsentiert wurden.


Psychotherapeutischer Umgang mit PTBS und Long Covid

Die Psychologische Psychotherapeutin Prof. Dr. Regina Steil leitete den Workshop „Moderne Traumatherapie – Update“ mit den meisten Teilnehmer*innen. Sie betonte die nachgewiesene hohe Wirksamkeit von Psychotherapie besonders bei Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und stellte gut etablierte psychotherapeutische Interventionen vor, wie beispielsweise „Prolonged Exposure“ und „Cognitive Processing Therapy“.

Bettina Grande (psychologische Psychotherapeutin) widmete ihren Workshop der Aufklärung über das Krankheitsbild von ME/CFS bzw. Long Covid. Obwohl die Zahl der Betroffenen so groß ist und stetig zunimmt, gibt es zu der Erkrankung bisher kaum Forschungspublikationen und es existieren keine zugelassenen Medikamente dagegen. Die Betroffenen leiden teils unter dramatischen Symptomen mit gravierenden Folgen für ihren Lebensalltag und haben zudem häufig mit Psychologisierung ihrer Erkrankung, Fehldiagnosen oder Fehlbehandlung zu kämpfen. Daher sei es sehr wichtig, dass auch Psychotherapeut*innen die Symptome der Erkrankung kennen und sie von psychischen Erkrankungen abgrenzen können, sagte Frau Grande und gab ihren Zuhörer*innen hilfreiches Werkzeug dafür an die Hand.


Diskriminierungserfahrungen schaden der psychischen und physischen Gesundheit

Der Psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien mit Diskriminierungserfahrungen widmete sich im dritten Workshop Prof. Dr. Aleksa Kaurin (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin). Die Forschung zeigt, dass Kinder und Jugendliche – ebenso wie Erwachsene – mit Diskriminierungserfahrungen von einem deutlichen schlechteren Gesundheitszustand berichten. Auch das Risiko, an einem Suizid zu sterben, ist für diese Kinder und Jugendlichen erhöht, wenn sie im Umfeld keine Unterstützung erleben. Frau Kaurin sensibilisierte die Teilnehmer*innen des Workshops dafür, sich in der Therapiesituation ihrer eigenen Privilegien bewusst zu sein. Außerdem gab sie Tipps, wie man mögliche Diskriminierungserfahrungen der Patient*innen geschickt erfragen und thematisieren kann.

Im vierten Workshop erläuterte Dr. Klaus Hesse (Psychologischer Psychotherapeut) die leitliniengerechte stationäre und ambulante Behandlung von Psychosen. Er gab einen Überblick über die große Bandbreite der Symptome dieser Störungsgruppe. Prof. Dr. Hesse betonte unter anderem die Bedeutung der Psychoedukation, in der Patient*innen ihre Frühsymptome erkennen lernen und Strategien für die Reaktion auf diese Symptome entwickeln.

Die Workshops wurden nach der Mittagspause, die zum regen Austausch mit Kolleg*innen genutzt wurde, inhaltsgleich wiederholt, so dass die Teilnehmer*innen die Möglichkeit hatten, sich noch mit einem weiteren Thema zu beschäftigen.


Bessere Strukturen für psychologische Erste Hilfe im Katastrophenfall gefordert

Anschließend kamen die Teilnehmer*innen wieder im Haupt-Veranstaltungsraum zusammen, wo als nächstes zwei Impulsvorträge auf dem Programm standen. Kammerpräsidentin Sabine Maur thematisierte die Flutkatastrophe im Ahrtal und erläuterte, welche Versorgungsprobleme, aber auch welche Versorgungsideen im Nachgang der Flut aufkamen. Sie betonte, dass der Berufsstand der Psychotherapeut*innen sehr schnell und hilfsbereit auf die Katastrophe reagiert habe, dies aber vor allem dem persönlichen Engagement einzelner Personen sowie schon bestehenden guten Kontakten der Kammer in die Politik zu verdanken gewesen sei. Es gebe allerdings keine vorgesehenen Abläufe und Strukturen für die psychologische Erste Hilfe in so genannten Großschadenslagen. Angesichts der durch den Klimawandel zu erwartenden Zunahme an Naturkatastrophen fordert die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz daher, besser auf solche Szenarien vorbereitet zu sein, unter anderem durch die Implementierung von Strukturen für die Psychologisch-Psychotherapeutische Hilfe sowie durch Bereitstellung von zentral verfügbaren Informationen, interdisziplinäre Zusammenarbeit und einen besseren Übergang von Notfall- in die Regelversorgung.

Welche Konsequenzen der Klima-Wandel abgesehen von zunehmenden Naturkatastrophen hat, erläuterte im zweiten Impulsvortrag Mareike Schulze, Psychologische Psychotherapeutin und eine der Gründerinnen von Psychologists/Psychotherapists for Future. Neben den akuten Effekten seien Langzeitfolgen körperlicher und wirtschaftlicher Art sowie Migrationswellen, Nahrungs- und Trinkwasserknappheit und Kriege um Ressourcen zu erwarten. Allein die Antizipation dieser Ereignisse sowie der Verlust von Stabilität und Sicherheit begünstigten psychische Erkrankungen. Betroffen seien vor allem junge Menschen und die Erwachsenen seien hier gefragt, Verantwortung zu übernehmen. Die Klimakrise sei immer auch als Gesundheitskrise zu verstehen und Klimaschutz daher Gesundheitsschutz, betonte Schultze.


Strukturen für Psychotherapeutisches Engagement in der Prävention ausbauen!

Für die anschließende Podiumsdiskussion konnte Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen), amtierende Vorsitzende des Bundesgesundheitsausschusses, gewonnen werden. Sie wurde dem Gespräch digital aus Bremen zugeschaltet. Auf dem Podium sprachen außerdem Mareike Schulze und die Vorstandsmitglieder Sabine Maur, Dr. Andrea Benecke und Peter Andreas Staub. Vorstandsmitglied Ulrich Bestle übernahm die Moderation.

Frau Dr. Kappert-Gonther mahnte in ihrem Statement einen Paradigmenwechsel von der klassischen Gesundheitspolitik zur präventiven Politik an. Der Übergang von den Lebenswelten ins Hilfesystem müsse dringend verbessert werden, das aktuelle Hilfesystem brauche mehr Vernetzung und reiche in seiner Kapazität nicht aus. Peter Andreas Staub erhielt Applaus für die Forderung, Strukturen in der Prävention von psychischen Erkrankungen zu schaffen, damit Psychotherapeut*innen sich hier professionell engagieren können. Dr. Andrea Benecke erinnerte daran, dass Patient*innen momentan im stationären Kontext so viel Psychotherapie wie im ambulanten erhielten, obwohl man davon ausgehen müsse, dass stationär aufgenommene Patient*innen einen erhöhten Bedarf an Betreuung haben. Der G-BA hat mit seiner jüngsten Entscheidung die Hoffnung auf Besserung der Versorgung zerschlagen. Auch Frau Dr. Kappert-Gonther stimmte zu, dass Prozesse im G-BA reformiert werden müssten. Die politische Arbeit der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz und den Einsatz im Ahrtal lobte sie ausdrücklich und rief dazu auf, „am Ball zu bleiben“ um die psychotherapeutische Versorgung der Menschen zu verbessern.

Der Landespsychotherapeutentag, der nach der Podiumsdiskussion zu Ende ging, hat deutlich gemacht, dass in der momentanen Situation mit ihrer Häufung von Krisen und Katastrophen eine gute psychotherapeutische Versorgung mehr denn je vonnöten ist. Er hat jedoch nicht nur die Finger in die Wunden gelegt und Schwachstellen aufgezeigt, sondern auch gute Lösungsansätze und Strategien präsentiert, um mit den Herausforderungen umzugehen.

 

Das Programm des Landespsychotherapeut*innentags 2022 finden Sie hier.

Die Präsentationen der Referent*innen finden Sie hier:

26.09.2022
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